«Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück», lautet der erste Satz in Vigdis Hjorths Wiederholung, und er könnte auch jeden anderen der markerschütternden Romane einleiten, den diese Schriftstellerin aus Asker bei Oslo nebst drei Kindern in die Welt gesetzt hat. Eigentlich ist es ein Leitsatz aller maßgeblichen Literatur. Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden; auf dieser Mechanik der Selbstvergewisserung fußen alle menschlichen Organisationsformen, vom nackten Ich vor dem Spiegel über die, wie Natalia Lomaia in ihrem Essay über Hjorths Romane schreibt, «gewinnorientierte» und dabei stets Ungerechtigkeiten reproduzierende Kernfamilie, bis hin zu wolkigeren Kollektiven wie Freundeskreis, Land oder Nation.

In einer Stadt wie Berlin, die sich wie kaum eine andere durch ihre Erinnerungskultur definiert und doch geschichtsvergessen ist wie keine zweite, fragt man sich manchmal, ob das mit dem Erinnern und Wiederholen nicht längst zur toxic therapy geworden ist. Durcharbeiten soll man seine Traumata gemäß der letzten indigenen Heilkunst des Westens. Wäre Berlin ein Subjekt, es wäre im vergangenen Jahrhundert dem Zerstörungstod durch Hybris nur knapp entkommen, hätte sich aufgerafft und die eigenen Wunden mit verschiedenen Zwangsschemata in den Griff bekommen, und gälte jetzt vielleicht als austherapiert – was ja nicht heißen muss, dass seine Bewältigungsstrategien etwas anderes wären als Leugnung und Dissoziation. Es gibt Tage, da denkt man auch weiterhin, hier ist es gut. Dann aber die Einsicht: No city for sane people.
Lassen wir den Blick also schweifen, ein Fenster aufmachen, das war ja das Motto, unter dem wir im Februar 24 mit dieser Zeitschrift angefangen haben. Neben Natalias Auftaktessay über Hjorths Familiengeister soll hier auch von sanften, heilsameren Banden die Rede sein: Hebe Uharts Erzählerin hegt ihre Balkonpflanzen wie Kinder, jedes seiner «Seinsweise» gemäß: «eine, die der Sonne widersteht, hart, wüstenhaft»; eine weitere «groß und ansehnlich aber nichtssagend, keinerlei Anspruch auf Originalität»; schließlich, ihr liebstes Geschöpf, «einen anderen Efeu, einheitlich grün, der klein geblieben ist (…); schattenhaft und in seiner Vorsicht geschützt». Bislang war die 2018 verstorbene Autorin aus Buenos Aires ins Deutsche nahezu unübersetzt. Ihre Erzählung über Efeuzucht und Hexenmischerei hat uns so bestimmt in eine offenere Welt der Gedanken geführt, dass wir nicht anders konnten, als sie in Dagmar Ploetz’ anschmiegsamer Übersetzung zu veröffentlichen.
«I am a survivor, not a victim», schreibt Nahil Mohana, und Mohammed Al-Zaqzouq könnte sinngemäß ergänzen: «Entweder meine Bücher bleiben, oder ich gehe.» Die beiden Autor:innen schreiben – und leben – in Gaza. Die Bedeutung dieses Satzes hat sich seit dem 7. Oktober fundamental verändert, oder gar nicht so sehr? Dass sich in Zeiten von Völkermord und Vertreibung die ganze Existenz auf Unmittelbarkeit reduziert, wie Susan Sontag in Sarajevo notierte, wird von Nahil und Mohammed einerseits brutal bestätigt, andererseits angefochten. Wo liegt die Grenze zwischen Hunger und Appetit, Luxus und Notwendigkeit? Warum sind Brot und Bohnen wichtiger als Schokolade, und mit welchem Recht kommt der Gedanke auf, dass man seine über Jahre gesammelte Bibliothek mit den Büchern und Widmungen der Freunde für ein paar Fladen Weizengebäck aufs Spiel setzt? Kinder können ein solcher Grund sein, denn ihr Leben ist heilig.
Nahils und Mohammeds Texte, von Katharine Halls und Sandra Hetzl ins Englische und Deutsche gebracht, wollen nicht als Informationsquellen über Gaza gelesen werden (von denen gibt es, wenn man sie denn wahrnehmen will, genug), sondern als das, was sie sind: Literatur, notwendiger Luxus, geschrieben von Menschen, die sich ihrem Opferstatus nicht fügen, die unser Mitleid nicht brauchen und die sich sträuben, Trophäen unserer Humanisierung zu sein. Als Großvater von Zwillingen kehrte der Holocaust- und Genozidforscher Omer Bartov im vergangenen Jahr zweimal auf die andere Seite des Krieges zurück, nach Israel, ins Land seiner Geburt und seines Erwachsenwerdens. Beklemmend, welche Apathie und Resignation er unter vielen Israelis vorfand; erschütternd, mit welcher Verve und Genauigkeit er seine Beobachtungen niederschrieb. «Grenzenlose Lizenz», Omer Bartovs Essay vom April, der anhand des Genozidbefunds in Gaza die moralische Ordnung der westlichen Welt hinterfragt, veröffentlichen wir hier nun auch gedruckt.
One Day We’ll Understand ist der Obertitel von Sim Chi Yins fotografischen Arbeiten, die diesem Reader seine Farbe und seinen Rhythmus, aber auch sein einschneidendes Titelbild verleihen. Kurz hatten wir überlegt, ob eine rostige Knarre auf dem Cover wirklich eine gute Idee sei. «Waffen und Sex» seien das, was verkaufe, sagte uns ein Kette rauchender Feuilletonist während eines Praktikums – eigentlich ein Mann mit sicherem ästhetischen Gespür. Chi Yins Rostpistole und die anderen «Remnants» aus ihrer Serie stehen für eine Archäologie der Gewalt und des Widerstands, für die Halbwertszeit der Materie, aber auch für eine gewisse Komik der Archive und im langen Zeitmaßstab der Geschichte für die Machtlosigkeit der Waffen.
«The Malayan Emergency» nannten die Briten den unfassbar blutigen Krieg, den ihre Kolonialtruppen von 1948 bis 1960 gegen die kommunistische Guerilla in Malaysia führten und in dem Chi Yins Großvater deportiert und exekutiert wurde. Ein Motiv der malayischen Rebellen war, der ethnisch-chinesischen Minderheit – meist Migranten aus dem südlichen China in späterer Generation – gleiche Rechte zu verschaffen. Wie Chi Yin wurde Tash Aw in eine malaysisch-chinesische Familie geboren, und in seiner Erzählung Traitors spürt er den Verflechtungen von Verrat und Anpassung nach, in die verstrickt ist, wer wie er ein Mehrfachmigrant ist. Chinesischsprachig in Malaysia aufgewachsen, wanderte Tash vom Rand der Peripherie des einstigen Empire in sein Zentrum: ins Herz des anglo-amerikanisch dominierten Elitensystems sogenannter Weltliteratur.
Neben Tashs Erzählung und Nahils Tagebuch gibt es in diesem Reader zwei weitere englischsprachige Texte von Claudia Durastanti und Eric Otieno Sumba. Otieno erzählt anhand von Johan Grimonprez’ preisgekröntem, aber ungenauem Dokumentarfilm Soundtrack to a Coup d’Etat, wie der kongolesische Ministerpräsident Patrice Lumumba 1961 einem durch die USA und die Vereinten Nationen gestützten Komplott zum Opfer fiel. Belgien hatte die Menschen im Kongo einhundert Jahre lang einem der grausamsten Kolonialregime überhaupt unterzogen – diese Zeit und ihr Ende waren so schamlos verbrecherisch, dass es kaum zu glauben ist.
Claudia Durastanti konstatiert bei ihrer Durchsicht italienischer Gegenwartsliteratur eine gewisse fascism fatigue: unfähig oder unwillig, sich ernsthaft mit Trump, Musk, Meloni und den hypermodernen Formen des (Neo)Faschismus auseinanderzusetzen, produziert die italienische Literatur der vergangenen Jahre eine Flut erbaulicher Storys über Coming-of-Age, Widerstand und häusliches Leben unter Mussolini. Es ist, schreibt Claudia, als hätten Italiens Schriftsteller:innen das Fascho-Credo Dio, Patria e Familia durch eine neue Dreifaltigkeit aus Autofiction, Crime and Family ersetzt.
Vom Erwachsenwerden kann man auch anders erzählen – das zeigt zum Beispiel Burhan Qurbanis gemeinsam mit Enis Maci erarbeitete Shakespeare-Kinoadaption Kein Tier. So Wild. Unsere Autorin Moshtari Hilal sieht darin eine unversöhnliche und deshalb ehrliche Parabel auf den Zustand der deutschen Migrationsgesellschaft. Wolfgang Hottner, der selbst in Bergen lebt und lehrt, erklärt uns die Backstory von Christian Krachts naturmystischer Flucht nach Norwegen in seinem Roman Air. Und Clemens J. Setz, ein Schriftsteller, dem kein Rabbit Hole des Internets fremd ist, würdigt in einem Rezensionsessay über den besten Menschen von Amazon, den 2019 verstorbenen Dichter und Dauer-Reviewer Kevin Killian, dessen gesammelte Buch- und Produktbesprechungen kürzlich in einer Anthologie herausgegeben wurden.
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Schluss, Ende, Aus – aber nie so ganz. Die Schwierigkeit mit dem Wiederholen und Durcharbeiten ist, dass es keine Begrenzung in sich selbst hat, dass die Maßstäbe der Erinnerung aus ihr selbst heraus gewonnen werden müssen. Sollte Deutschland sich dabei immer nur auf sich selbst verlassen? Ja, das sollte es, das müsse es sogar, sagte der westdeutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 in seiner epochemachenden Gedenkrede zum 8. Mai, kurz bevor der erste Historikerstreit über Vergleiche, Relativierungen und Herleitungen des Nationalsozialismus begann: «Wir müssen die Maßstäbe allein finden.»
Was damals als nützliche Aufforderung aufgefasst werden konnte, sich endlich selbst und in aller Tiefe mit den eigenen Verbrechen auseinanderzusetzen, ist inzwischen zu einem deutschen Solipsismus geworden. Bloß nichts zulassen, was die seit Weizsäcker in staatliche Rituale gegossene Erinnerungskultur aus ihrer Selbstgewissheit reißen könnte. Wie es zu diesem Starrsinn kam, was an ihm falsch und traurig ist, und wie die Deutschen wieder neu und besser auf ihre eigene und die Geschichte der vielen anderen blicken könnten, welche von ihren Verbrechen in Mitleidenschaft gezogen wurden, all das entfaltet Erhard Schüttpelz in seiner epochalen Gegenrede Tag der Befreiung, die diesen Reader beschließt.
Berlin / Fortaleza, im Juni 2025