Wie kann es sein, fragt Holocaust- und Genozidforscher Omer Bartov, dass Israel, Land der Opfer, 80 Jahre nach der Shoah nahezu unbehelligt einen Völkermord an den Palästinensern begeht? Seine Erkundung der moralischen Implosion führt zu apathischen Israelis – und in einen gedankenlosen Westen.
Auch die Deutschen seien am 8. Mai 1945 vom Nationalsozialismus befreit worden, behauptete Bundespräsident Weizsäcker vor vierzig Jahren. Die so eingeleitete Erinnerungskultur scheitert heute an der Realität. Eine Widerrede zu Ehren der «Displaced Persons» und aller, die ihrer Befreiung noch harren.
Mit seiner Executive Order zur Geschlechterbinarität will Trump die «biologische Wahrheit» zurück in die Hände des Staates legen. Und sein transfeindliches Dekret dient einem noch höheren Ziel: der Selbstermächtigung einer Regierung, die progressive Gesetze einkassiert und den Rechtssaat aushebelt.
«Menschen, die Grenzen nicht verachteten, hätten keinen Pioniergeist, sagte Elon Musk. Dieser Satz wird mich nicht verlassen, nicht die Sätze werden mich verlassen.» Eine Erzählung über das Leben in Duldung, das Menschen zum Verharren an Orten zwingt, an denen sie nicht bleiben dürfen.
Much of Trump’s crude tariff policy stems from economist Stephen Miran, whose User’s Guide to global trade wants to structurally devalue the US dollar. But his hands are tied: shadow banks provide much of the world’s USD supply, and squeezing them too hard would crash the financial economy.
«Sonny, das Wiesel, hatte jedes Mal etwas anzubieten, einen Toaster in Originalverpackung, einen Satz Sportfelgen, einen schweren Kunstkatalog, der noch eingeschweißt war» — ein Ode an Berliner Glücksritter und Spielsüchtige, illustriert von der Fotoserie «Golden Age» aus unserem dritten Reader.
Kein Tag ohne neues Erstaunen über den herankriechenden Faschismus, der sich in Trumps Deportationen, dem Genozid in Gaza, aber auch im hot boredom der Kunst manifestiert. Gibt es wirklich keine Alternative zur liberalen Distanznahme, die all das wie ein irrsinniges Theaterstück beschreibt?
Die schädlichsten Gründungsmythen brauchen gar keine Menschen: Fossilien sind ihnen lieber. Gegen den Yuval-Harari-Trend erzählen Stefanos Geroulanos und Caroline Winterer die Entstehung der Vor- und Frühgeschichte im 19. Jahrhundert als akademisch-imperiale, stets zur Ausrottung aufgelegte Mission.
Ist Taiwan, ein Staat mit heißlaufenden Chipfabriken, kaum Einwanderung, niedrigen Steuern und der Todesstrafe auf schwere Vergehen, ein Traumland für Libertäre? Notizen von einer seit Jahrhunderten antikolonialen Insel am Vorabend der Invasion, die vielleicht niemals kommen wird.
«Quando, fortunatamente per un falso allarme, sono finita al pronto soccorso infantile del Vivantes, il pediatra indossava un outfit denim-su-denim e con la testa era altrove: forse già là dove avrebbe fatto serata. Come spiegare, altrimenti, il sadismo con cui ha condotto la visita al mio bambino?»
Nach der «Mentalarchäologie» unserer Traumwelt und der Rettung der zwei Geschlechter nun also «die» Philosophie der Musik. In bester Gesellschaft hätte Christoph Türcke über sein Thema nachdenken können, entschieden hat er sich für den Alleingang zum Gipfel des Absoluten. Too bad.
Millionenmal verkauft, bepreist und genetflixt: In Spanien gilt Fernando Aramburu als Koryphäe und prägt mit staatstragenden Thesen die Baskenland-Debatte. Sein neuer Roman ist wieder mehr Literatur und weniger Meinungsjournalismus – eine willkommene Abwechslung vom kolumnengetränkten Erfolgsrezept.
Kaum jemand betreibt anti-antisemitische Cancellings so virtuos wie der DIG-Vorsitzende und Twitter-Addict Volker Beck – zum Leidwesen auch vieler Juden. Becks Entschlossenheit und seine Historie als skandalerprobter Politprofi lassen für die Meinungsfreiheit in Deutschland nichts Gutes vermuten.
Vom Westen kaum bemerkt, zerrissen von religiösen, ethnischen und ökonomischen Konflikten, ist der Sudan seit Jahren eine der tödlichsten Regionen der Welt. Die systematische Gewalt gegen Frauen in diesem Krieg hat eine Vorgeschichte im Sklavenhandel – und in der Familienhistorie unserer Autorin.
Kubitschek, Tellkamp, Buchhaus Loschwitz, rinse & repeat. Dass Dresden die Kapitale des deutschen Rechtsintellektualismus sei, ist ein sich selbst nährender Mythos. Der wichtigste Stichwortgeber dieser Szene war und ist der Ex-SDS-Vorsitzende und provokante Zeitschriftenmacher Frank Böckelmann.
Faster than expected, the fertility rate of humankind may have fallen below the so-called replacement rate. The most alarmist responses are raised by pro-natalist white men on the right, but research suggests that their very own technological agenda is driving the decline more than any other factor.
Sie ist die wohl größte Quelle von Missbrauch und Erniedrigung, und doch hat die Kernfamilie ihren Me-Too-Moment noch nicht erlebt. Sind Familien überall, auch in Norwegen, zur endlosen Wiederholung verdammt, wie Vigdis Hjorths neuer Roman und alle ihre markerschütternden Erzählungen nahelegen?
Mit siebzig Jahren hat Helene Bracht in Das Lieben danach eine kondensierte Bilanz jenes Lebens vorgelegt, das nach sexueller Gewalterfahrung im Kindesalter natürlich weitergehen muss. Ein Debüt, so reflexionsscharf und auch selbstkritisch, dass es die Literatur zu Missbrauch und Trauma überragt.
Seit Mesopotamia sind der Kitsch und sein Maler Odd Nerdrum zwei stille Trabanten im Werk Christian Krachts, im Schatten von Autofiktion, Zitaten und Pop. In Air sickert Nerdrums Weltmüdigkeit nun vom Cover ins eisige Herz der Erzählung. Ein Meistersang in Äolisch-Moll, und Auftakt zum Spätwerk.
Der Schwerkraft trotzen, alle Lasten abstreifen, floaten über den Trümmern des kaputten Jahrhunderts. Der Wunsch zu schweben rührt ans Existenzielle, im Leben wie im Denken – und auch in den neuen Büchern von Annett Gröschner und Joseph Vogl. Dumm nur, dass Physik und Geschichte anderes vorhaben.
Drei Strategien gegen Faschismustendenzen kennt die liberale Demokratie: Eingemeindung, Ausgrenzung oder Repression. Keine funktioniert mehr gegen die AfD, und in den USA dreht MAGA das Tempo auf. Lesen Sie in unserem Editorial zum Reader 3, warum dem liberalen Antifaschismus die Mittel ausgehen.
«Die Freundschaft ist weder ein objektiver noch ein intersubjektiver Bereich, ja sie bildet überhaupt keinen Bereich, sondern ist die Entfaltung einer Vertrautheit ohne ein Außen. Freundschaft – wir werden darauf zurückkommen – existiert nicht für andere, dritte Parteien.»
Ihre ersten Berlinaufenthalte führten unserer Autorin typische rassistischen Vorurteile gegen türkischstämmige Menschen vor Augen. Hier erzählt sie, wie sie zu ihrem Buch Stellvertreter der Schuld und zur Außensicht auf deutsche Erinnerungskultur kam, in der Muslimen eine präzise Rolle zukommmt.
Vor 100 Jahren amtierte in Thüringen die erste von völkischen Kräften tolerierte Landesregierung. Sie zwang das Bauhaus zum Umzug von Weimar ins noch SPD-regierte Dessau. Heute sind Kunsthochschulen wieder ein Ziel von Gängelung und Repression – und die gedankenlose politische Mitte macht mit.
«Was folgt, sind meine bescheidenen Neuigkeiten aus St. Louis. Nicht, weil ich denke, dass alles, was hier passiert, nicht ohnehin Gegenstand eurer Gespräche wäre, vielleicht auch zu viel, gemessen an der sonstigen Weltlage. Alles passiert hier so schnell, dass ich es aufschreiben muss.»
Musk und Bannon, FDP und AfD widersprechen sich nur scheinbar – eigentlich brauchen Libertäre und Völkische einander. Die einen haben nur Methoden und keine Inhalte, die anderen nur Idealbilder und keinen Plan: Ihre Koalition ist inkohärent aber schlagkräftig, ihr Ziel Disruption und Gewalt.
Enzo Traversos Gaza im Auge der Geschichte beginnt mit dem Feuersturm von Hamburg 1943 und entfaltet von dort eine psychopolitische Analyse, die wie für deutsche Sensibilitäten geschrieben scheint: ein Angebot, noch einmal neu und anders über den 7.10., seine Vorgeschichte und Folgen nachzudenken.
Mit dem Narko-Musical-Thriller Emilia Pérez wollte Hollywood einen alternden weißen Regisseur und eine mexikanisch inspirierte trans Schauspielerin für ihren vermeintlichen Wagemut feiern. Nun killen rassistische Tweets von Karla Sofía Gascón die Party. Der eigentliche Skandal liegt aber woanders.
Warum wählen breite Bevölkerungsschichten faschistische Parteien, auch wenn rechte Politik ihnen schadet, ja sie verachtet? Auf diese Frage, die sich angesichts der Erfolge von Trump und AfD erneut stellt, sucht und findet die Linke seit den 30ern Antworten – zumindest in der Theorie.
Der eine ging von Osten über die Grenze, den anderen zog es noch weiter westwärts: Thomas Brasch und Rolf Dieter Brinkmann. Ihre wieder oder erstmals herausgegebenen Texte zeugen von Krämpfen und zudringlicher Verletzlichkeit. Und einer Vergangenheit, die zur Abwechslung mal wirklich vergangen ist.
Würde Victor Heringer noch leben, wäre er fünf Jahre älter als Enis Maci und fünf Jahre jünger als Leif Randt. Begegnet ein europäisches Publikum dem begnadeten Schriftsteller aus Rio also ähnlich wie dieser Generation? Oder stecken wir auch beim Lesen in geopolitischer Überheblichkeit fest?
Crônicas sind Zeitkapseln, die blitzschnell von Kritik in Karikatur und Erzählung umschalten. Für die Bewusstseinsbildung in Lateinamerika sind sie so wichtig wie Landreform oder testimonio; in Brasilien schrieb Victor Heringer von 2014 bis 2017 ein paar herausragende Exemplare. Eine Auswahl
Der Triumph der evangelikalen Kirchen in Brasilien war auch ein Mediencoup. Während katholische TV-Messen wie Schlossführungen in Pantoffeln wirkten, bekam man bei den Pfingstbewegungen das Heilige Feuer in HD, uferlose Versprechen und abgefahrene Stories, «alles beruhend auf wahrer Begebenheit».
Wenn der Berliner Bürgermeister die UN-Beauftragte Francesca Albanese cancelt und Scholz und Merz sich offen gegen die Verfahren internationaler Gerichte zu Israel stellen, wird klar: Nicht mehr die Sorge vor Antisemitismus motiviert die deutsche Staatsräson, sondern die Angst vor dem Völkerrecht.
Deutsche Außenpolitik will wertegeleitet sein und internationales Recht verteidigen, Geschäfte mit problematischen Regierungen hat man trotzdem oft und gerne gemacht. Sind die Waffenlieferungen an Israel während der Zerstörung Gazas ein besonders eklatanter Doppelstandard, oder business as usual?
Was nützt Maschinenstürmen gegen KI, und was das Erzählen, wenn ChatGPT schon die Ghost Writer ersetzt? Im Stop-and-Go von Reflexion, Ironie und Versenkung rüttelt Jonas Lüschers Roman Verzauberte Vorbestimmung so ehrgeizig wie kaum ein anderer an der Blackbox Gegenwart. Mit den richtigen Mitteln?
Im «Charlottengrad» der 1920er lebten nicht nur Nabokov und Schklowski, sondern eine halbe Million exilierter Sowjetbürger. Roman Utkins gleichnamiges Buch zeigt diese Community in ihrer ganzen existentiellen Ambivalenz – und wirft ein schillerndes Gegenlicht auf Berlins heutige Exilanten.
«Ich hasse das Telefon», schrieb John le Carré an seinen Verleger, und auch sonst verschickte er wie manisch Briefe: an Philip Roth, Gary Oldman oder Margaret Thatcher. Eine wuchtige Ausgabe zeigt ihn auf 700 Seiten als politisch Wankelmütigen, der am liebsten zwei Dinge tat: umgarnen und absagen.
Miljenko Jergovićs Sarajevo Marlboro-Erzählungen erschienen noch während der 1452-tägigen Belagerung der Stadt und halfen dabei, sie zum literarischen Erinnerungsort Europas zu machen. 30 Jahre später vermittelt ein Doppelgänger-Fortsetzungs-Band den Eindruck, es hätte sich kaum was geändert.
In den Ruinen der Sozialdemokratie klammern sich Berlin Gothic-Romane an die Versprechen aus Sexpositivity und günstigem Wohnraum. Auch Aria Abers Good Girl ist ständig im Berghain, findet jedoch in migrantischen Realitäten ein starkes Gegengewicht. Reicht das, um Berlin-Fantasien auszunüchtern?
Mit der Online-No. 8 erscheint auch unsere zweite Druckausgabe. Besser geworden ist wenig in diesem Jahr der Unnachgiebigkeit. Warum es so schwierig geworden ist, über Geschichte und Erinnerung zu sprechen, und wie uns das an der Gegenwart scheitern lässt. Ein Editorial zu unserem zweiten Reader.
«Von Anfang an war der jugoslawische Krieg ein Krieg um Erinnerung. Bevor 1991 die ersten Schüsse fielen, gingen Geschichtsbilder und Zahlen aufeinander los, rissen das rote Sternenbanner in Stücke, deuteten neue Gräueltaten an, die aus den alten erwuchsen.»
Wie mittelmäßig darf, soll, muss ein Universitätspräsident sein? Geht es nach dem Mann, der ausgerechnet einer Universität der Künste die Kunst austreiben will, nicht mittelmäßig genug. Ein Bericht und eine Meditation – über einen, der einschüchtert, weil er sich selber hat einschüchtern lassen.
Ist Insomnia der tragische Ursprung umwerfender Kunst? Die ganze Kulturgeschichte scheint das beweisen zu wollen, aber die Fotografien von Rebekka Deubner und ein brasilianisches Verb erzählen eine andere Geschichte: Wie man aus der Welt fällt, ohne sie zu verlassen; kentert, ohne zu sinken.
«Nobody who really thinks about history can take politics altogether seriously», schrieb Susan Sontag. Auch nach Trumps zweitem Triumph kann man Politik nicht mehr ernst nehmen, und muss es doch umso mehr. Höchste Zeit für linke Überlebende, an eine unterschätzte Taktik anzuknüpfen: Organizing.
«I want you to panic!», forderte Greta Thunberg 2019, doch obwohl sich die Umweltkatastrophen häufen, bleibt die Angst weitgehend aus. Stattdessen entwickelt sich im globalen Norden eine Halbdistanz zum Klimanotstand, die mit einem anderen Begriff der Psychoanalyse besser beschrieben ist.
Kamel Daoud, Gewinner des Prix Goncourt 2024, gilt in Frankreich als maßgebliche Stimme des intellektuellen Algerien und Experte für koloniale Vergangenheit, Islamismus und Einwanderung. Sein Roman Houris behandelt den algerischen Bürgerkrieg der 1990er – und lässt einige historische Lücken.
«Was für eine absolut niederschmetternde Situation: In all den Jahren, in denen ich mir diese Bücher nach und nach angeschafft hatte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich einmal zwischen ihnen und Brot für meine Kinder würde wählen müssen.»
Neue Bücher von Enis Maci mit Pascal Richmann, von Philipp Simon und Bettina Balàka durchleuchten das toxische Verhältnis von Mensch und Natur. Die war immer auch menschengemacht, klar – neuere emergente Phänomene lassen aber zweifeln, ob Menschen wirklich die Masterintelligenzen des Planeten sind.
Nach Jahrhunderten der Enttäuschung, scherzte Octavio Paz im Ernst, glaube man in Mexiko nur noch an die Lotería und die Jungfrau von Guadalupe. Anstatt weiterhin Worthülsen anzubeten, sollte die Kulturwissenschaft Phänomene wie ihre Verehrung als historisch-poetische Universalien erforschen.
Mit 97 überlebt Leni Riefenstahl einen Hubschrauberabsturz im Sudan – eine weitere Survivor-Story in ihrem an Heldengeschichten reichen Leben. In Andreas Veiels Doku Riefenstahl sind es nicht die kleinen Fehler, die R.s Lebenslügen aufdecken. Es ist die archivarische Sammelwut der Autorin selbst.
Schon vor 1900 lieferte Mannesmann Pipelines nach Sibirien. Was für die BRD zu lukrativen Energieimporten führte, hat in Russland kolonialistische Auswirkungen bis heute. Matteo Sciannas Sonderzug nach Moskau erzählt die deutsch-russische Energiesymbiose, übersieht aber ihren kolonialen Aspekt.
Für viele ist Judith Butler – in Nachfolge Hannah Arendts – zur «passioniertesten säkularen jüdischen Kritikerin des Zionismus» im 21. Jahrhundert geworden. Wer Butlers Schriften über Israel und Palästina ernst nimmt, erkennt ein Denken der Gewaltlosigkeit, das beide Konfliktparteien herausfordert.
«Erlauben Sie mir noch diese Analogie: Anders als Charon, der die Seelen mit einem Boot über den Fluss Lethe ins Reich der Toten übersetzt, übersetzt oder bringt das Schreiben in umgekehrter Richtung die Seelen der Toten ins Reich der lebenden Lesenden zurück.»
«Die ‹echte Gefahr› geht von Raketen aus, heißt es, und hier kommt die Zwei-Wände-Regel zum Tragen: Immer zwei Wände müssen es sein, die einen vom Einschlagsort trennen. Das erklärt, warum die Menschen in den Gängen auf Entwarnung warten. Für den Weg bis in den Bunker kommen die Raketen zu schnell.»
Der Konsens ist gewaltig: Rachel Cusk und Sally Rooney sind nicht irgendwelche Autorinnen, sie haben Maßstäbe definiert, an denen man sie fortan misst. Es war nur eine Frage der Zeit, bis eifrige Rezensenten am Sockel rütteln, auf den sie die beiden einst setzten.
Mykolajiw wurde im März 2022 von russischen Truppen belagert und wird seither bombardiert. Die Verteidigung hielt, aber die Trinkwasserversorgung wurde zerstört – es fließt Salzwasser in den Leitungen. Wie es ist, wenn einer 500.000-Einwohnerstadt die Infrastruktur des täglichen Lebens wegbricht.
J.D. Vance’ Stern ging vor acht Jahren als Buchautor auf: Seine Hillbilly-Elegie galt als Schlüsseltext über die Arbeiterklasse in Trumps Amerika. Einige politische Häutungen später ist er selbst Kandidat der hard right: Zeit für einen Besuch in Middletown, Ohio, Schauplatz seines Memoirs.
Wie man den Holocaust und andere Gräuel medial darstellen sollte, wurde in den 80ern und 90ern heftig diskutiert; heute durchzieht ein betäubender Bilderstrom das Internet. Eine kohärente Geschichte zu erzählen, vermag er nicht. Zwei Bücher von Lee Yaron und Amir Tibon über den 7.10. versuchen es.
Die amerikanische Gesellschaft verlässt sich quer durch alle Klassen und Altersstufen auf Psychopharmaka, die deutsche tut es ihr zusehends nach. Wenn Aufregung und Abwehr, Emotionen und Interessen medikamentös eingestellt sind, scheint die Psychoanalyse kaum noch mitzureden – aber das täuscht.
«We ought to take Trump seriously, not literally», someone wisely cautioned. This applies to the entire American hard-right, whose ideological antics might soon become policy. From «White Genocide» to «The Punisher» and «The Sigma Male», the talking points of an internet subculture are about to win.
Over the last 50 years, seeking dead women has become a strangely popular topic of novels, biographies, and autofiction—with authors often as female, white and floundering as their objects of desire. But besides the mix of undiscovered talent and morbid glamor, what are they really looking for?
Vier Stunden dauere die Lektüre eines Buchs von Fleur Jaeggy, sagte Joseph Brodsky, aber um das Gelesene zu verarbeiten, brauche man ein Leben lang. Mit über achtzig erfährt die schweizerisch-italienische Autorin, deren Romane und Erzählungen von herber Strenge sind, eine verdiente Neuentdeckung.
Er könne sich die Welt ohne Israel nicht vorstellen, schrieb Paul Celan 1972 an Jehuda Amichai – und machte damit ein Phantasma namhaft, das den Nahostkonflikt bis heute bestimmt. Kurz nach der israelischen Beeper-Attacke im September traf sich eine Gruppe in Tel Aviv, um diesen Satz zu diskutieren.
Rashid Khalidis Der Hundertjährige Krieg um Palästina vertritt eine historisch-kritische Lesart des Nahostkonflikts – gegen den Mythos, der ihn als Clash zweier unvereinbarer Narrative darstellt. Was international als neues Standardwerk begrüßt wird, gerät in Deutschland unter Extremismusverdacht.
Es scheint, Michael Lentz habe aus Gesprächen mit Grönemeyer ein Buch über Grönemeyer gemacht. Doch der Schein trügt. Statt einer Erzählung, die den Menschen hinter dem Kunstarbeiter porträtiert, wird eine staubtrockene Werkbiografie serviert, die zwischen Handbucheintrag und Harmonielehre versackt.
Zur Berliner Spielzeiteröffnung trifft das Kraftakttheater der älteren Männer auf die Postdramatik einer jüngeren Generation, die sich weigert, das Rad der Gewalt immer weiter zu drehen. Das größere Drama spielt derweil fernab der Bühnen, wo das subventionierte Theater ums Überleben kämpft.
Krieg, Vertreibung, Zwangsarbeit prägten Horst Bieneks frühen Jahre; später lebte er im Stil eines Kulturattachés im Speckmantel der BRD. 1.700 triefende Tagebuchseiten zeigen den oberschlesischen Autor als einen, der künstlerisch wenig zu geben wusste, aber stets davon ausging, man schulde ihm was.
Wenn Kunst kollektive Schmerzpunkte der Gegenwart berührt, aber keinen Aufschrei provoziert: Eine nüchterne Eloge an Yael Bartanas zeitdiagnostisches Meisterwerk Farewell in Venedig, das nach Aussage der Künstlerin «eine Art Endlösung» zeigt, aber nicht die von den Nazis imaginierte.
Der Delors-Report bereitete 1985 das «Maastricht-Europa» mit EU-Binnenmarkt und Währungsunion vor. Mario Draghis Bericht für die EU-Kommission propagiert nun einen Paradigmenwechsel von der Wettbewerbsfähigkeit zur Produktivität. Der EU bleibt gar keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
Neue populistische Parteien wie das BSW lassen sich kaum noch in das Rechts/Links-Schema einordnen. Damit vollenden sie eine Bewegung, die für rechtspopulistische Parteien in Osteuropa in den 1990ern begann: Um sich gegen die liberale Ordnung zu stemmen, ist man je nach Lage mal rechts, mal links.
Jens Balzer und Susan Neiman wollen die Linken vor den «Woken» retten, sind sich aber vollkommen uneins darüber, was an dieser Sensibilität das Schlimmste sein soll. Geht’s ihnen gar nicht um aktuelle politische Kämpfe, sondern um ein Ideengerüst aus den 90ern – das einfach mal ein Update braucht?
«Abschieben Abschieben Abschieben war das brutalste AfD-Plakat im Sommer 2024, Abschiebung schafft Wohnraum das perfideste und Corona Unrecht aufarbeiten dasjenige, das mich am meisten nachdenklich gemacht hat.» Unklar, was in Sachsen zuerst da war: die Unfreundlichkeit oder der Fremdenhass.
Als in den 60ern in Jugoslawien die Winnetou-Filme gedreht wurden, kamen die Komparsen, die in Cowboy-und-Indianer-Drag aufeinander schossen, vom Balkan und der Vojvodina. Jahrzehnte später bekriegten sie sich in echt. In Die Projektoren macht Clemens Meyer daraus ein melancholisches Wende-Epos.
Die Erforschung antisemitischer Einstellungen in Deutschland orientiert sich am Begriff des vom Vernichtungswillen angetriebenen «Erlösungsantisemitismus». Mangelhafte Empirie, ein Generalverdacht gegen Muslim:innen und eine Armada orientierungsloser Antisemitismusbeauftragter sind die Folge.
«Wenn du die Wahl hättest zwischen einem Buch von Naipaul und einem über Javascript, welches würdest du lesen?» – Wer als Einheimischer in einem deutschen Software-Unternehmen in der Westbank überleben will, braucht auf alles, auch hierauf, die richtige Antwort. Und wird am Ende trotzdem entlassen.
In his iconic MoMA water lily paintings, Monet’s brushwork is the magnified version of his usual smaller strokes. But to summarize what might connect a late Monet and Rilke’s French poetry with … well … Soviet fighter jets, you’d need to write another essay. So why not just read this one?
As dining out has turned into an extreme sport—with chefs as idolized celebrities and customers as eager to perform—food lovers with a sense for sustainability keep asking one question: Is there a way ahead for culinary excellence that does not equate good food with bad labour practices?
Wenn Polizisten in Kampfmontur Demonstration auflösen, sind sie der schmerzlich-konkrete Inbegriff von «Staatsgewalt». Wie widersetzt man sich solcher Gewalt, ändert vielleicht sogar ihre Prämissen? Nur wer die eigene Verletzlichkeit als Mittel einsetzt, kann der Gewaltlogik des Staates entkommen.
Grosny, «Die Schreckliche», wurde 1818 als russische Garnison im Kaukasus gegründet. Von hier dominierte das Zarenreich, die UdSSR, schließlich Putin die Gebirgsregion. Tschetschenen, Georgier und Armenier haben ein taktisches Verhältnis zur Großmacht. Ein Modellfall von russischem Kolonialismus?
Anders als der Greenwich-Meridian kennt der Meeresspiegel keinen international vereinbarten Nullpunkt. Das macht die Geschichte seiner Bestimmung zum Zankapfel von Interessen. Und es erklärt, warum der, nein: die steigenden Meeresspiegel das politische Koordinatensystem neu kalibrieren.
Kunstfilmer oder Autor, Gigworker oder Denker, Idealist oder Stratege – was war Harun Farocki? Seine Schriften in sieben Bänden und Nora Alters Forms of Intelligence zeigen ihn als autodidaktischen Trickster, für den das Spiel mit den Masken des Selbst formale und biografische Notwendigkeit war.
Romantik ist die Sehnsucht, das Unberührte zu berühren. Dissoziation, wenn alle Organe gleichzeitig zur Flucht ansetzen. Lisa Jeschkes Gedichte, Übersetzungen und Editionen treiben Boyhood und nationale Gefühle über die Grenzen, ohne gleich wieder in einem neuen Volkskörper Heimaturlaub zu nehmen.
Arabisch ist eine Weltsprache, gesprochen von rund 3 Millionen Menschen in Deutschland – doch arabischsprachige Literatur ist hier schwer zu vermitteln. Das liegt an fehlenden Sprachkenntnissen in Verlagen, in der Literaturkritik und -wissenschaft; und leider auch an einem fatalen Generalverdacht.
«Das Israel, an das ich mich erinnere, sieht sich selbst als säkular, liberal und demokratisch … Es ist das Israel, das gescheitert ist, das vorbei ist. Für dieses Israel war Jerusalem die Vergangenheit, Tel Aviv die Gegenwart, und die Zukunft – das war Haifa.»
Links, antinational und pro Israel war die Formel der Antideutschen, die 1989/90 als linksradikale Subkultur entstanden. Manche von ihnen drifteten weit nach rechts, andere machten Karriere in Medien und Politik. Den deutschen Diskurs über Israel, Palästina und Antisemitismus prägen sie bis heute.
Recent novels by Jennifer Croft and Kate Briggs amp up the role of the literary translator precisely in a the moment when the machines take over. Is this a last hurrah of a heroic yet notoriously invisible profession – or does it betray an ignorance of what translators are actually doing?
Die erste Printausgabe der Berlin Review ist erschienen. Mit neuen Texten und einer Auswahl der besten Essays, Reviews und Memos aus unseren ersten fünf Monaten. Im Editorial stellen wir unseren ersten Reader vor, schauen kurz zurück und gespannt nach vorne.
«On Holy Saturday, the sun closes early, leaving a phantom of warmth for tourists and visitors. The gray light, on this doorway of a day, between death and living again, turns us into some species of ghost, wandering in pairs or groups of beloveds through the Sanssouci Park in Potsdam.»
«I dreaded encountering what I already knew: that I was more likely than white women or non-Black women of color to deliver a child prematurely, more likely to die from childbirth, and more likely to have my pain ignored by the medical professionals tasked with keeping me safe.»
«Greife in jeder unangenehmen Situation zu einem russischen Klassiker, dort ist alles noch schlimmer», lautet ein alter Witz. Inmitten von Repression und Propaganda lesen Russ:innen besonders zwei Arten von Literatur: Junge, weibliche Autofiktion, und alte Männer aus dem sowjetischen Underground.
Daniel Loicks Theorie der Gegengemeinschaften will helfen, die herrschenden Verhältnisse zu überwinden. Doch ihm fehlt ein Begriff von Herrschaft, der diese Verhältnisse systembewusst beschreibt. Seine Kritische Theorie erstarrt in Schemata von Macht und Gegenmacht, Gesellschaft und Community.
Die zeitgenössische Art World inszeniert sich als klassenlose Gesellschaft. Von Cool Britannia bis Corona erzählt Hari Kunzru im dritten und letzten Teil seiner Kunstbetriebstrilogie den Ruin dieses Milieus, in dem jede soziale Situation von der Frage ihrer Vermarktbarkeit umklammert wird.
Im Neoliberalismus verkümmerten die Glücksversprechen der Wirtschaftswunder zu einem Komplott aus Prekarität und Optimierungswut. Wie beschreibt man so ein Lebensgefühl? «Grausam optimistisch», nannte es Lauren Berlant 2011. Ein Instant Classic jüngerer Theoriebildung, endlich auch auf Deutsch.
Die feministische Kunsttheoretikerin Lu Märten war seit ihrem Tod 1970 vergessen, jetzt wird sie in Text und Ausstellung wiederentdeckt. Doch ihre visionäre Kritik am ästhetischen «Liberalismus» ist nicht reibungslos in einen Kunstbetrieb zu integrieren, der selbst von neoliberalen Strukturen lebt.
Die Gesellschaft sei gespalten, heißt es. Binäre Denkmuster, wie sie dieser Diagnose zugrundeliegen, sind oft hilfreich und manchmal auch notwendig. Aber sie begrenzen den Blick auf die Realität. Besonders für den Liberalismus ist das ein Problem. Fotografien von Maxime Verret
Schweden, einst «moralische Supermacht» und Wohlfahrtshimmel, ist heute Pro-Kopf-Weltmeister im Export von Waffen, Musik und – Krimis. Was hat das mit der so gar nicht fiktiven Erschießung des Premiers Olof Palme zu tun, und was mit der explodierenden Bandenkriminalität? Die Ermittlungen laufen.
A generation of Europeans has come of age speaking English as a lingua franca or as a professional language. What does this do to national literatures? Three novels by Colin Barrett, Veronica Raimo and Leif Randt wield subtle strategies to subvert the Anglo-American linguistic dominance.
Dozierende zeigen kaum Solidarität mit Studierenden, deren Protestcamps von Hochschulleitungen und Polizei brutal geräumt werden. Dabei brauchen wir die zeltlagernden Studierenden, denn sie nutzen ihre Rechte, um auf Völkerrechtsbrüche hinzuweisen und basisdemokratische Lösungsansätze zu entwickeln.
Unter Adenauer und Ben-Gurion nahm die deutsch-israelische Versöhnung an Fahrt auf. Gehandelt wurde dabei aus Kalkül, nicht aus Vergebungseifer und Reue. Somit beruht die Entstehungsgeschichte unserer Staatsräson auf einem einfachen Tauschhandel: Absolution für Deutschland, Aufbauhilfe für Israel.
Deutsche Kolonialtruppen begingen im heutigen Namibia den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, doch noch immer fehlt Grundwissen zu diesem Verbrechen, das die Bundesregierung zögerlich anerkennt. Kein Wunder, dass Namibia über die deutsche Haltung zur Genozid-Klage gegen Israel empört ist.
Mit Texas Chainsaw Massacre wurde die Kettensäge zum Kultobjekt, heute ist sie Futter für Memes. Argentiniens neuer Präsident Milei nutzte ihr Potenzial zwischen Lächerlichkeit und Effizienz und erklärte sie zum Logo seines blutrünstigen Plans: der staatlich organisierten Abschaffung des Staates.
Der Ukraine gehen die Soldaten aus, und die neuen Mobilisierungsgesetze bringen Hunderttausende in schreckliche Dilemmata. An einem höllischen Ort zwischen Nicht-siegen-und-nicht-verlieren-können wird das Land, und werden besonders seine Männer, im Abwehrkampf gegen Russland zerrieben.
«zum Beispiel, … dass seit dem 19. April general elections stattfinden, die umfangreichsten Wahlen, die die Welt kennt, 969 Millionen Wahlberechtigte, von denen wohl rund 70 Prozent über sechs Wochen zu den Wahllokalen marschieren werden…» – Ein Reisetagebuch aus Südindien im Frühjahr 2024.
Leiser, als man vermuten konnte, hat Rainald Goetz sich von der Gegenwart entfernt. Die stützenden Männerzirkel, auf denen sein Genietum ruhte und deren Geheimwünsche er erfüllte, es gibt sie nicht mehr. Einige Passagen aus der Textsammlung wrong deuten an, dass darin auch eine Erlösung liegt.
«Der Palast der Republik ist Gegenwart», behauptet eine Ausstellung im Berliner Stadtschloss. Das ist selbstredend Quatsch, denn er wurde vom nationalkonservativen Schlossneubau verdrängt. Das «Forum für Vielstimmigkeit», das das Humboldt-Forum seither sein möchte, ist eines für Geschichtsklitterei.
Nach zwei wild experimentierenden lyrischen Werken jetzt ein Roman: Mit Hasenprosa buddelt sich Maren Kames als eine der gelenkigsten Stimmen in die Mitte der deutschen Gegenwartsliteratur. Wer sich von der Lektüre jedoch eine Hatz auf fixe Bedeutung erhofft, wird ohne Beute nach Hause gehen.
Autobiografisches war ihm fast so zuwider wie Klerus und Bürgertum. Umso wertvoller sind Flauberts neben weiteren Skizzen lange verschollene Grabreden auf beste Freunde. Sie zeugen von seinem Hass auf die Ehe und einer Gegenutopie: Familien «im Geiste», die keine Kinder produzieren, sondern Werke.
Umwelt, Klima, Frieden, alles geht dahin. Viele suchen deshalb Halt in neuen esoterischen Praktiken oder alten Erlösungsreligionen. Was sollen aber all jene tun, die das zu eskapistisch finden? Einen «säkularen Glauben» entwickeln, sagt Martin Hägglund in einem großen philosophischen Entwurf.
Kunst ist politisch, aber wie genau? Im Namen ihrer Generation lassen Isabella Hammad und Yara Rodrigues Fowler Hamlet in der Westbank und Marx gegen die Militärjunta antreten. Wie gelingen Erzählungen politischer Mobilisierung? Und wen mobilisiert eine solche Literatur?
Die Schuldenbremse lässt Investitionen immerzu gegen laufende Ausgaben antreten. In der Regel verliert dabei die Zukunft, denn sie hat keine organisierte Lobby. Transformationspolitik lässt sich so nicht machen. Was aus der Forschung bekannt ist, perlt am deutschen Haushaltsdogmatismus einfach ab.
«Eine Karriere als süchtiges Sex-Symbol nimmt gezwungenermaßen ein Ende. Als Schriftstellerin kann ich so langlebig sein, wie die Wissenschaft es erlaubt» – die Figuren in Almodóvars Erzählungen plaudern aus, warum der Regisseur immer auch schrieb: über Verlust, Einsamkeit, und natürlich die Mutter.
Berlin sagt gerne von sich, eine Stadt der Emigranten, Einwanderer und Expats zu sein. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass gewisse Fremdheitserfahrungen nicht wegzuintegrieren sind. Wer im Exil lebt, folgt anderen Raum- und Zeitordnungen als die Alteingesessenen – und das ist auch gut so.
Das Schicksal der Hamas-Geiseln spaltet Israel. Netanyahu wird gedrängt, einen Befreiungsdeal zu schließen, doch gerade religiöse Zionisten lehnten dies monatelang ab. Die rabbinische Rechtsgeschichte zeigt, wie zentral die Geiselfrage für die jüdische und demokratische Identität des Landes ist.
Kapitalismus speist sich aus einem Verdauungsproblem: Damit er gedeiht, muss seine Ausscheidung exponentiell wachsen. Simon Schaupp analysiert unsere metabolische Misere mit den Mitteln historischer Soziologie. Bleibt die Frage, wie man die Politik aus ihrer selbstverschuldeten Verstopfung befreit.
Die Superintelligenz muss warten: Bisher sind auch die besten verfügbaren KI-Chatbots nicht besser als eine beflissene, aber unzuverlässige Version unserer selbst. Zeit, sich mit ihrer Assistenz vertraut zu machen. Und das heißt: Sie kennenzulernen wie die sprunghaften Pseudomenschen, die sie sind.
Mit der polizeilichen Auflösung des Berliner Palästina-Kongresses am 14. April 2024 opfert der Staat die Rechtsstaatlichkeit zugunsten der Repression eines vermeintlichen Antisemitismus. Das kann nicht gut gehen.
Uns ist sie kaum bekannt, in Mexiko eine Ikone: Als dichtende Nonne und fanatische Rationalistin sprengte Sor Juana alle Erwartungen des 17. Jahrhunderts. Eine neue Übersetzung lädt ein, die Hochbegabte bei ihrem Höhenflug zum Scheitelpunkt der Vernunft zu beobachten. Wenigstens aus «der Ferne».
Die asiatischen Mächte, heißt es oft, strebten nach ökonomischer Hegemonie, nicht nach geistiger Vorherrschaft. Neue Bücher zeigen: Im Hintergrund formiert sich längst ein neues asiatisches Bewusstsein, das zwischen Revision und Revisionismus seiner Geschichte universalistische Ausgänge sucht.
Eins hat Kafka vielen Klassikern voraus: Er ist ein Meme, oder hat jedenfalls Memes produziert. Die Kafka-Serie von David Schalko und Daniel Kehlmann kann Die Verwandlung entsprechend als Schattenspiel-Gimmick inszenieren. Selbst der gelangweilte Germanist muss anerkennen: Das ist rundum gelungen.
Manche murren: García Márquez’ letzter, posthumer Roman über eine Frau, die Reisen ans Grab ihrer Mutter mit erotischen Abenteuern verbindet, wäre besser gar nicht erschienen. Doch weil Bücher Beziehungen sind und Vorlesen eine Art des Verabschiedens, ist unsere Autorin heilfroh, dass es anders kam.
Ein Deutscher ist jemand, der nicht lügen kann, ohne selbst an seine Lüge zu glauben. Sandra Hüller hat aus diesem Aphorismus eine Kunstform gemacht: In The Zone of Interest und Anatomie eines Falls blenden ihre Figuren die Wirklichkeit derart authentisch aus, dass man ihnen glauben muss – oder?
Die Fiktion einer «Stunde Null» ließ viele Deutsche nach 1945 an ihre Besserung glauben. Frank Trentmanns Gewissensgeschichte zeigt jedoch, wie sehr das moralische Empfinden der Nachkriegsdeutschen dem der Nazideutschen entsprach – mitsamt einer Mitleidslosigkeit, die noch heutige Debatten prägt.
Jan Assmann erforschte nicht nur Ursprungsmythen, er erzählte sie auch. Seine These vom Antisemitismus als Reaktion auf monotheistische Gewalt wurde selbst als antisemitisch kritisiert. Doch das war sie nicht, vielmehr zeigte sie das Judentum als Kern und Herausforderung der westlichen Zivilisation.
Vor dem 7. Oktober veröffentlichten Edward Luttwak und Eitan Shamir ein Buch über die «Innovation» der Israelischen Streitkräfte. Die beiden Militärstrategen verschleiern, wie die IDF wirklich vorgehen, und welche taktischen und doktrinären Vorgaben zur beinahe vollständigen Zerstörung Gazas führen.
The novel has been pillaged for a long while now. After a decade of memoirs and essays, it seemed that literary imagination had died at the hands of autofiction. With recent books by Hernan Diaz, Benjamin Labatut and Catherine Lacey, the novel strikes back – and starts stealing from nonfiction.
Elif Batumans Romane treiben ein virtuoses Spiel mit der Literaturgeschichte, und wie im echten Leben kommt es auf die Frage hinaus: Ist Schreibzeit verlorene Lebenszeit? Eine Zeit, in der das Leben erst zu sich kommt? Man muss sich entscheiden: Entweder lebt man viel, oder man schreibt viel. Oder?
«Da sitzen sie alle, allein zu Hause, und schreiben sich die Seele aus dem Leib, erfahren Mutterschaft als Verlust eines Ichs, das ihnen so lieb geworden ist» – Birthe Mühlhoff seziert die Flut der Neuerscheinungen über Mutterschaft; in harten, ehrlichen, aber doch zärtlichen Worten.
Mohamed Kordofani gehört zu einer Kohorte junger, autodidaktischer Filmemacher aus dem Sudan. Sein Goodbye Julia lief als erster sudanesischer Film in Cannes. Gender- und klassensensibel erzählt er von der rassistischen Hierarchie zwischen Nord- und Südsudan, die das Leben von Generationen prägt.
Han Kang spricht leise und schreibt leise Literatur. Aber gerade damit erreicht sie Themen von äußerster Brutalität. Katharina Borchardt ist ihr mehrmals begegnet und rekonstruiert eine einzigartige literarische Werkgenese: immer nah bei den Pflanzen, an den Grenzen der Sprache und doch politisch.
Einer Mutter wird das Sorgerecht aberkannt, weil sie jetzt Sex mit anderen Frauen hat. Constance Debré macht aus diesem Trauma Autofiktion. Die Skandalisierung des Buches durch Medien und Kritik zeugt von der tiefen Verankerung heteronormativer Überzeugungen auch in progressiven Kreisen.
Carlos Fonseca gilt als Wunderkind der lateinamerikanischen Literatur. Eine Künstlerin nach dem Sprachverlust, ein gewissenhafter Anthropologe, ein Literaturprofessor als Detektiv – in seinem dritten Roman Austral treibt er sein Spiel mit den Metaebenen auf die Spitze. Zu welchem Ende?
Germany takes pride in its memory culture. But its often self-congratulatory remembrance rituals have many blind spots. One of them is the network of international solidarity that the GDR was part of. Echos of the Brother Countries, an exhibition at HKW Berlin, allows for a closer look.
Die niederländische Literatur hat ein Problem, das auch die deutsche betrifft: Entweder die Leute lesen gar nicht mehr oder sie tun es auf Englisch. Was tun gegen die unerbittliche Amerikanisierung lokaler Kulturen? Eine aufmüpfige Lyrikszene aus den Niederlanden und Flandern legt Fluchtlinien aus.
Wer den TikTok-Algorithmus ein paar Stunden lang auf AfD-Content abrichtet, bekommt prompt nach einem Höcke-Interview ein Rommel-Meme zu sehen. Hat die AfD TikTok entdeckt, oder TikTok die AfD?
Bist du Bürgerkind und fällst hin, dann hebt dich deine Familie auf. Bist du Arbeiterkind, dann bleibst du liegen. Fien Veldmans Roman Xerox zeigt, wie sich die Klassenverhältnisse auch in der scheinbar flachen Start-up-Welt reproduzieren, ja verschärfen.
Kids these days flock to raves as if they were the latest incarnation of transcendence, but what about the political economy that squeezes profit out of every last pocket of subculture? McKenzie Wark and Hannah Baer on raving during a pandemic, late in life, and its ambivalent politics.
Krieg bedeutet Abnutzung: ungleich verteiltes Leiden und Hoffen; an der Front, in Städten unter Raketenbeschuss, im Exil und auf der Schwelle zur Rückkehr. Und über allem schwebt Angst, der Krieg könnte «zu einem rechtmäßigen Zustand» werden. Mit einer Fotostrecke und Hörfassung der Autorin.
In Argentinien ist Inflation keine Erkrankung der Ökonomie, sondern Lebensform und kulturelle Konstante. Wer sie studiert, gelangt vom Urknall zum Volcker-Schock, vom Anarchokapitalismus zur wahnhaft kalkulierenden Einzelseele. Gibt es den graceful exit? Mit einer Hörfassung von Hanns Zischler.
Die einzige Nachricht, die ich bis an ihr Ende schaffe, stammt von einer israelischen Nachrichtenseite. Sie ist auf den 4. Oktober 2023 datiert und berichtet von einer Schlange, die einen Igel in einem Stück verschlingen wollte. Der Igel spreizt seine Nadeln. Die Schlange stirbt und der Igel stirbt.
Worum geht es? Um literarisches Wissen, Mut zur Genauigkeit, auch Schönheit, Abschweifung und Nerdiness. Texte, die ein Fenster aufmachen und – How German Is It? – mal kräftig durchlüften. Welcome to Berlin Review.
Die Welt ist längst untergegangen, und wir leben im Epilog. Diese Konsequenz aus dem Anthropozän verbaut New-Weird-Literatur in subtil apokalyptischen Szenarien. Auch Bruno Pellegrino erzählt das Weltende nicht als großen Crash, sondern leise, eindringlich und mit zart schimmernder Hoffnung.
Goldene Zeitalter hätten ihn nie fasziniert, schreibt Peter Brown in seiner Autobiografie. Fast im Alleingang hat er aus der Spätantike ein respektables Forschungsthema gemacht. Den meisten gilt die Zeit um den Niedergang Roms als irrational und finster, bei ihm schillert sie in ansteckendem Licht.
Flauschige Cover, saftige Liebesgeschichten, Wohlgefühl durch Wiedererkennung. Romance-Romane stehen bei jungen Leser:innen, auf BookTok und in Bücherblogs hoch im Kurs. Doch sie sind nicht bloß heimelige Unterhaltung. Sie tragen bei zur schleichenden Verschiebung der Hierarchien des Geschmacks.
Der Gaza-Krieg wird mit betäubender Gewalt und massiven palästinensischen Opferzahlen geführt. Eine über Jahrzehnte der Unterdrückung aufgebaute, zutiefst ungleiche Bewertung von Leben bildet die Genealogie der extremen Gewalt, die in Israel und Palästina seit dem 7. Oktober 2023 tobt.
Am 29. April 1987, anlässlich des 20. Jahrestags des Sechstagekriegs, veröffentlichte David Grossman, damals ein junger 33-jähriger Autor, eines der bedeutendsten Werke, die in Israel zur palästinensischen Frage erschienen sind: Die gelbe Zeit. Ein halbes Jahr später brach die Erste Intifada aus.
Was wäre die Welt ohne Palo Alto, Palo Alto ohne Stanford und Stanford ohne Kalifornien? Malcolm Harris’ geschickt erzählte Geschichte des kalifornischen Kapitalismus setzt alles daran, den Geniekult des Valley zu demontieren, vergisst dabei aber das Wichtigste: die Arbeitenden.
Unangenehme bis grausame Menschen sind in der Kulturgeschichte, genau wie im Alltag, keine Mangelware. Kann man, vielmehr: darf man das Kunstwerk lieben, auch wenn man den Künstler verachten muss?
Die liberale Nachkriegsordnung fußte auf einer Vermittlung des Singulären und Universellen. Im «Nie wieder», das Israel und die BRD sich je zu eigen machten, wurde sie kontraktualisiert. Nirgends ist ihr Ende nun prägnanter zu spüren als in Deutschland, das seit dem 7.10. mit seiner Identität ringt.
In den 70ern schrieb er Heldengeschichten fürs chinesische Militär. Dann wurden die Chimären der Kindheit und Ängste der Kameraden zum Stoff seiner sprachgewaltigen Literatur. In volksnahen, wüsten Bildern beschwört Yan Liankes neuester Roman eine Genealogie der Gewalt in China von Mao bis Xi.
Radikales trans Denken nimmt die geschlechtliche Dimension von Selbstbestimmung ernster als jede andere Theorie und hat genau deshalb einen schweren Stand. Eine neue, Kurze Geschichte der Transfeindlichkeit sucht nach Wegen, trans Erfahrung jenseits von Panik und Idealisierung gerecht zu werden.
«Jammerschade, daß es nicht gelingt, diesen Traum zu erzählen, der so merkwürdig seltsam skurril kurios absonderlich ist». Dabei war es ihr selbst noch immer gelungen: allzeit bereit auf der Schwelle, zugewandt und heiter entrückt. Im Januar starb Elke Erb in Berlin. Ein Gruß, aus traurigem Anlass.
Die größte palästinensische Diaspora Europas lebt in Deutschland. Im politischen Diskurs kommt sie kaum vor, und das hat nicht nur tagespolitische Gründe. Der ganze Widerwille Westdeutschlands, zum Einwanderungsland zu werden, ließe sich anhand der Geistergeschichte seiner Palästinenser erzählen.
Letters are not quite a thing of the past; as a literary device they’re perfectly alive to open some doors and keep others shut. In current works by Adam Thirlwell, Ridley Scott and Maïwenn, letters trigger different yet eerily similar gendered fantasies about who is entrusted to write them and why.
Jon Fosses Abgeschiedenheit ist Kult. Der Nobelpreisträger von 2023 zeigt sich, wenn er sich zeigt, mit Vorliebe in erhabener, schroffer, auch etwas öder Fjordlandschaft. Doch hinter dem Einsiedleridyll zieht ein betriebsames Fördernetzwerk manch einen Faden.
Prophetie mit oder ohne Puschkin. In Sergej Lebedews Erzählungen fault nicht nur das Gebälk der Lubjanka, auch die großen Fortschrittserzählungen Russlands verwesen und geben den Blick frei – auf Totengräber, Giftmischer, Geheimdienstler und noch weit seltsamere Gestalten.